Die Erfolgsgeschichte ist noch nicht ganz abgeschlossen. Seit Anfang der Sechzigerjahre die Schluckimpfung gegen die vom Polio-Virus verursachte Kinderlähmung (Poliomyelitis) flächendeckende Immunisierungen ermöglichte, gingen die Erkrankungszahlen drastisch zurück. Doch noch ist die Welt nicht vom Übel befreit...
In Deutschland traten zuletzt 1992 zwei - durch "importierte" Wildviren verursachte - Polio-Erkrankungen auf, die letzte hier entstandene (autochthone) Erkrankung wurde im Jahr 1990 erfasst. Im November 1998 wurde der bislang letzte Polio-Fall in Europa aus dem Süden der Türkei gemeldet. Dennoch gilt der Kontinent, im Gegensatz zu Nord- und Südamerika, noch nicht offiziell als poliofrei. Im Jahre 1988 hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein globales
Poliomyelitis-Eradikationsprogramm initiiert.
Möglich wird die Ausrottung der Poliomyelitis, weil der Mensch einziger Wirt des Erregers ist. Wenn praktisch alle Menschen in einer Bevölkerung gegen einen Krankheitserreger wie das Polio-Virus immun sind, kann sich der Erreger nicht mehr vermehren und stirbt aus. Daher ist die Impfung (inzwischen hat eine Injektion mit inaktivierter Polio-Vakzine in den Oberarm den Würfelzucker mit dem aufgeträufelten Impfstoff abgelöst) nach wie vor unverzichtbar:
Die Grundimmunisierung beginnt entsprechend dem Impfkalender für Säuglinge, Kinder und Jugendliche im dritten Lebensmonat. Ab dem 11. Lebensjahr wird für Jugendliche (bis zum vollendeten 18. Lebensjahr) eine Auffrischungsimpfung empfohlen.
Für die Attestierung der Poliofreiheit durch die WHO muss eine Region
drei Jahre poliofrei sein, und ein gut funktionierendes
Überwachungssystem muss bele-gen, dass die Zirkulation der
Poliowildviren unterbrochen ist. Dabei gilt die Überwachung aller akut
auftretenden schlaffen Lähmungen bei Kindern unter 15 Jahren
(AFP-Surveillance = acute flaccid paralysis) als "Goldstandard". Die
Fälle solcher plötzlichen Muskellähmungen sollten der Zentralen
Erfassungsstelle am Niedersächsischen Landesgesundheitsamt mitgeteilt
werden (diese Einrichtung ist für die vom Bundesministerium für
Gesundheit mit der AFP-Surveillance beauftragte Deutsche Vereinigung zur
Bekämpfung von Virus-krankheiten tätig).
Die Wissenschaftler des Nationalen Referenzzentrums für Poliomyelitis
und En-teroviren am Robert Koch-Institut untersuchen dann an Stuhl- und
Serumproben mit virologischen und molekularen Methoden, ob das
Polio-Virus im Spiel ist. Der Erreger wird hauptsächlich fäkal-oral
übertragen. Schon kurz nach Infekti-onsbeginn kommt es zu massiver
Virusvermehrung in den Zellen der Darmwand (Epithel), so dass bis zu
einer Milliarde infektiöse Viren pro Gramm Stuhl ausgeschieden werden
können.
Als regionales WHO-Referenzlabor unterstützt das Nationale
Polio-Referenzzentrum am Robert Koch-Institut sieben weitere europäische
Staaten. In dieser Funktion ist es insbesondere verantwortlich für die
Unterscheidung zwischen Impf- und Wildvirus.
Aktive internationale Hilfe, zum Beispiel im
Labor-Akkreditierungsprozess und beim Aufbau einer AFP-Surveillance,
leistet das Robert Koch-Institut durch Aufenthalte der
Polio-Spezialisten in anderen Nationalen Polio-Laboratorien und die
Entsendung von Infektionsepidemiologen im Rahmen von "STOP Polio" (Stop
Transmission of Polio). Mit diesem Programm unterstützt die WHO die
Ausrottung des Virus in Ländern Südasiens und Zentralafrikas. Dort gibt
es Gebiete, in denen nach wie vor Erkrankungen durch Polio-Wildviren
auftreten (vor allem in Indien beziehungsweise in der Subsahara-Region
und am Horn von Afrika). Reisende in solche Polio-Endemiegebiete sollten
über eine aktuelle Polio-Impfimmunität verfügen (Auffrischung der
Polio-Impfimmunität, falls die letzte Impfstoffgabe länger als zehn
Jahre zurückliegt, ggf. Grundimmunisierung oder Ergänzung fehlender
Impfungen). Eine spezifische Therapie mit antiviralen Substanzen ist
nicht verfügbar.
Nach der Unterbrechung der Poliovirus-Übertragung weltweit werden die
bio-medizinischen Laboratorien die einzige potenzielle Quelle von
Poliowildviren sein. Daher ist es notwendig, eine Inventur aller
gelagerten Poliowildviren durchzuführen. Deutschland ist einer von fünf
europäischen Staaten, die die WHO als Modellländer bestimmt hat, um
Erfahrungen mit der notwendigen Sicherheitslagerung von Polioviren
(Containment) zu sammeln. Die Aktivitäten dabei koordiniert die Deutsche
Vereinigung zur Bekämpfung von Viruskrankhei-ten, unterstützt vom Robert
Koch-Institut.
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