Haben Argumente für eine offenere Sexualerziehung in einer "sexualisierten" Gesellschaft noch eine Relevanz? Ist der Versuch der traditionellen Einbindung in ein heterosexuelles Lebenskonzept zunehmend zum Scheitern verurteilt? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für den schulischen Auftrag zur Sexualerziehung? Eine neue deutsche Studie möchte hierauf Antworten geben.
Man erwartete sich von der empirischen Studie zum Thema "Selbstwahrnehmung, Sexualwissen und Körpergefühl von Mädchen und Jungen aus 3.-6. Klassen", die von 1995 - 1998 unter der Leitung von Prof. Milhoffer von der Uni Bremen durchgeführt wurde, Hinweise für die altersgerechte Gestaltung sexualpädagogischer Medien und Aufklärungsbroschüren. Mittlerweile wurden die Ergebnisse wurden auf Tagungen, Lehrer- und Elternfortbildungen, Statusseminaren und in Fachzeitschriften vorgestellt.
Die schriftliche Befragung umfasste 8-14jährige Mädchen und Jungen aus mehreren Schulen einer norddeutschen Großstadt (18 Klassen, 190 Jungen und 147 Mädchen). In einer zweiten Phase wurden die Kinder in freiwilligen geschlechtshomogenen Gruppengesprächen mit den Ergebnissen der Studie konfrontiert, zu ihrer Meinung befragt und zu ihrer Einstellung zu Sexualität und dem "Schulprogramm Sexualkunde" interviewt. Insgesamt wurden die Meinungen von etwa 550 Kindern im Alter von 8-15 Jahren erhoben.
So ist in das Selbstbild wie auch das Wunschbild von Mädchen wie Jungen in der Reihenfolge der Aufzählung am häufigsten integriert, sportlich, klug, mutig, stark, gut aussehend und witzig zu sein.
Die Wünsche an die Schule (mehr Sportunterricht, mehr Möglichkeiten zur Bewegung, mehr Gelegenheit zum gemütlichen Miteinander, mehr Chancen zu kreativer Betätigung) und an das Miteinander im Schulalltag (mit Ausnahme des Sexualunterrichts bevorzugen mehr Jungen und Mädchen, koedukativ, statt geschlechtsgetrennt unterrichtet zu werden) sind fast gleich und auch in der positiven Einstellung zu einer partnerschaftlichen Aufgabenverteilung in Haushalt und Familie gibt es kaum Differenzen.
Stereotype greifen da, wo die Kinder um Aussagen über das Verhalten anderer Mädchen und Jungen gebeten werden. Da heißt es dann leicht verallgemeinernd: die Jungen sind laut, sie stören, sie schlagen immer gleich zu; bzw. die Mädchen petzen, oder die Mädchen sind zickig, wobei auffällig ist, daß mehr Mädchen über Jungen in dieser Weise 'herziehen' als umgekehrt.
Einige Unterschiede in der Selbsteinschätzung und in den Lebensplänen der Mädchen und Jungen weisen zwar auf geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen hin, kennzeichnen jedoch auch klar die objektiv unterschiedlichen Entfaltungschancen von Mädchen in einer nach wie vor geschlechtshierarchisch organisierten Gesellschaft.
Mädchen integrieren weniger häufig als Jungen ihr Bewegungsbedürfnis in ihre Lebenspläne und bevorzugen pflegerische, haushaltsnahe und pädagogische Berufe (obwohl sie gleich häufig von sich sagen, sie seien sportlich, hat das keine Konsequenzen für ihre Berufswahl, Jungen haben demgegenüber in Einklang mit ihrem Bewegungsbedürfnis raumgreifende und bewegungsorientierte Berufspläne)
Mädchen haben häufiger Probleme mit ihrem Körper und ihrem Aussehen als Jungen (sie wollen häufiger dünner sein und haben insgesamt mehr - auch Unausgesprochenes - an ihrem Körper auszusetzen)
Mädchen weichen häufiger als Jungen körperlichen Auseinandersetzungen aus und bevorzugen konstruktive Konfliktlösungen (in Konflikten verhalten sie sich nach ihren Aussagen defensiver, und versuchen verbal, durch Ausweichen oder gar konstruktiv miteinander ins Reine zu kommen );
Mädchen haben häufiger als Jungen das Bedürfnis, auch mal unter sich sein zu können, d.h. sie fühlen sich durch die Gegenwart von Jungen eher beeinträchtigt und gestört als dies bei Jungen der Fall ist;
Mädchen zeigen häufiger Verantwortung gegenüber sexuellen Risiken (Krankheiten, Infektionen, Frühschwangerschaften) und äußern Angst vor sexueller Gewalt. Auch Jungen sehen in den Risiken und Gefahren ein Problem, interessieren sich jedoch vergleichweise häufiger für den Lustaspekt von Sexualität (Sex, Orgasmus, mit jemandem schlafen).
Konsequenzen für die Sexualpädagogik
Sexualerziehung muß früh beginnen. Sie muß von Anfang an - unabhängig vom Geschlecht - ein bejahendes zärtliches Körpergefühl vermitteln. Sie muß immer dann, wenn Kinder in der Familie, im Kindergarten und der Grundschule beginnen, naive Theorien zu entwickeln und Fragen zur Sexualität zu stellen, mit altersgerechten, sachlich korrekten Antworten zur Stelle sein.
Eltern und andere wichtige Bezugspersonen sollten zudem ernstnehmen, in welchem Ausmaß ihre eigene Einstellung zur Sexualität sich auf die des Kindes überträgt.
Sexualerziehung muß sich als Sozialerziehung verstehen und als solche sowohl durch das eigene Vorbild, durch Informationen und Handlungsanlässe Hilfen geben für ein tolerantes, liebevolles und verantwortungsbereites Umgehen mit dem eigenen und dem anderen Geschlecht.
Unterricht muß demnach kooperativ, kommunikativ und konkurrenzarm gestaltet sein, den Schülerinnen und Schülern muß Verantwortung für sein Gelingen übertragen werden und er muß alle Sinne ansprechen.
Eine zeitgemäße Sexualerziehung sollte nach diesen Erkenntnissen Gefühle ansprechen, ohne Mädchen und Jungen damit bloßzustellen; Sachinformationen geben, die ein sicheres Körpergefühl vermitteln und die biologische und soziale Gleichwertigkeit von Mann und Frau einsichtig machen und immer wieder
stereotype Rollenbilder und Verhaltenszuweisungen zwischen den Geschlechtern kritisch hinterfragen und zu verändern versuchen.
Sexualerziehung, die sich als Sozialerziehung versteht, hätte demzufolge an der bewusst antisexistischen Gestaltung des gegenwärtigen Miteinanders anzusetzen.
Mädchen und Jungen müssen durch Informationen und Handlungsangebote zum Verständnis ihres Sozialverhaltens und ihrer Umwelt befähigt und zur Erweiterung ihrer Lebenspläne auf rollenunübliche Bereiche ermutigt werden.
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