Wie sich die Kinder entwickeln, kann oft erst in der frühen Schulzeit beurteilt werden. Meist fallen sie durch Aufmerksamkeitsstörungen auf.
Mit einem Anteil von etwa acht Prozent sind Frühgeburten der häufigste Notfall in der Geburtshilfe. Doch obwohl sich die Überlebenschancen auch sehr früh geborener Kinder in den vergangenen Jahren deutlich verbessert haben, werden die damit verbundenen medizinischen und sozialen Probleme von der Öffentlichkeit bislang weitgehend ignoriert.
Eine der wenigen Ausnahmen, bei der die Öffentlichkeit Anteil am Schicksal eines Frühgeborenen genommen hat, liegt Jahrzehnte zurück, wie Prof. Dr. Andreas Schulze, Leiter der Abteilung Neonatologie des Münchner Universitätsklinikums Großhadern, bei einer Diskussionsveranstaltung des Gesundheitsforums der Süddeutschen Zeitung gesagt hat. Als 1963 der zweite Sohn des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy und seiner Frau Jacqueline zu früh geboren wurde und dann starb, habe sich die Nation seinerzeit gefragt, was für eine bessere medizinische Versorgung Frühgeborener getan werde müßte, erinnerte Schulze.
Frühgeborenen-Rate kaum verändert
Seitdem habe sich die Prognose frühgeborener Kinder auch hierzulande erheblich verbessert, so Schulze bei der Veranstaltung, die unter dem Thema "Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit" stand.
Kinder, die vor der 22. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, sind nach seinen Angaben auch heute nicht überlebensfähig. Danach steigen die Überlebenschancen aber kontinuierlich und liegen nach der 24. Schwangerschaftswoche bereits bei über 70 Prozent.
Trotz aller Präventionsmaßnahmen wie Mutterschutzgesetz und Infektionsprophylaxe habe sich die Rate der Frühgeborenen kaum verändert, hat der Leiter der Abteilung Perinatalmedizin der TU München, Prof. Dr. Karl Theodor Schneider, berichtet. Nach wie vor seien Infektionen in etwa 40 Prozent der Fälle Ursache einer vorzeitigen Wehentätigkeit. Typische Ursachen von Frühgeburten seien aber auch Streß wie ein Wohnungsumzug in der Schwangerschaft oder berufliche Belastung.
Die "Verlegung in utero" und die Versorgung in Perinatalzentren habe in den vergangenen Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Überlebenschancen Frühgeborener geleistet. Dazu habe eine Untersuchung in München beigetragen, mit der schon vor Jahren belegt worden ist, daß die Verlegung Frühgeborener mit dem Notarztwagen selbst innerhalb der Stadt die Mortalität der Neugeborenen um 50 Prozent erhöht, berichtete Schneider.
Nur 40% besuchen eine reguläre Schule
Nach Angaben von Oberarzt Dr. Jochen Peters von der neonatologischen Intensivstation der TU München im Krankenhaus Schwabing gibt es in der Medizin keinen anderen Bereich, in dem Patienten so lange auf der Intensivstation sind, wie es bei der Versorgung der Frühgeborenen der Fall ist. Oft finde die Entlassung aus der Klinik zum errechneten Geburtstermin statt. Der Einsatz von High-Tech-Medizin bis hin zur patientengesteuerten Beatmung bringe immer wieder praktische Probleme, so Peters. Und: Frühgeborene haben oft nur etwa 50 Milliliter Blut. Deshalb seien schon regelmäßige Blutabnahmen ein Problem.
Nur allzu verständlich sei die Sorge der Eltern, ob sich ihr Kind gesund entwickelt, sagte die Entwicklungsneurologin Oberärztin Dr. Barbara Ohrt vom Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München. Eine Beurteilung sei häufig jedoch erst während der frühen Schulzeit möglich. Langzeitdaten aus der bayerischen Perinatalerhebung, bei der Frühgeborene der Jahre 1985/86 in Südbayern sechs und achteinhalb Jahre nach der Geburt untersucht wurden, habe ergeben, daß zwölf Prozent der Frühgeborenen eine Zerebralparese hatten sowie 24 Prozent eine geistige Behinderung oder Entwicklungsstörungen. Nur 40 Prozent besuchten eine reguläre Schule. 23 Prozent gingen in eine Sonderschule, die übrigen benötigten besondere schulische Hilfen.
Aufmerksamkeit ist gestört
In der Schule fallen frühgeborene Kinder entgegen bisherigen Annahmen nicht durch Teilleistungsstörungen, sondern durch Aufmerksamkeitsstörungen auf, sagte Ohrt. Die Kinder seien besonders langsam und hätten Probleme mit der simultanen Informationsverarbeitung, besonders wenn auch noch räumliche Be-ziehungen bewältigt werden müssen.
Nach Angaben des Münchner Medizinrechtlers Dr. Rudolf Ratzel sind Ärzte gezwungen, alles zu tun, um Leben zu erhalten. Sie müssen auch gegen den Willen von Eltern handeln, die befürchten, daß intensivmedizinische Maßnahmen bei Kindern zu Behinderung führen können. Wenn andererseits aber klar abzusehen sei, daß alle medizinischen Bemühungen vergebens sein werden, dürfe der Arzt auf weitere intensivmedizinische Maßnahmen verzichten und das Kind sterben lassen, sagte Ratzel.
Haftpflichtansprüche gegen Ärzte in den Perinatalzentren, denen vorgeworfen wird, zu früh oder zu spät gehandelt oder zu viel oder zu wenig Intensivmedizin benutzt zu haben, führten nur selten zum Erfolg, so Ratzel. Probleme sieht der Medizinrechtler weniger im stationären Bereich, sondern eher in der Peripherie: Dort müßten Ärzte Risiken und die eigenen Grenzen erkennen, um Schwangere rechtzeitig an ein Zentrum mit Erfahrung mit Frühgeborenen zu schicken.
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